vertigo

2013  //  mannheim  //  fürth

eric trottier

komposition ritzenhoff

 


Choreographie & Regie: Éric Trottier
Musik: Jörg Ritzenhoff
Kostüme: Melanie Riester
Licht: Markus Becker
 
Es tanzen Julie Pécard und Patrick Entat
 
Schwindel (medizinisch: Vertigo) ist einer der häufgsten Beratungsanlässe in allgemeinmedizinischen Arztpraxen. Schwindel hat im Deutschen zudem die schöne Doppelbedeutung von Lüge und dem Verlust der Balance und dann geht es im Schwindel um die lustvolle, rauschhafte oder angstbesetzte Vorwegnahme von unbeherrschbaren Konsequenzen angesichts einer Gefahr oder im Moment des Fallens.
„Falling in love“ ist ein englischer Ausdruck, der diese Haltlosigkeit mit dem mystifzierten Gefühl Liebe in Verbindung und auf den Punkt bringt. Der Film „Vertigo“ von Hitchcock wiederum wählt die Höhenangst als Symptom und Metapher für traumatische und unbewältigte Angst.
 Éric Trottier interessiert der Verlust von klaren Fixpunkten in jeder Form. Den Schwindel erleben wir als überwältigenden Sog, als Schwanken und Drehen. Die Augen können sich nicht mehr an einen Punkt heften und dadurch Stabilität suggerieren.
 CHAOS war der erste Teil der Trilogie NO CONTROL, die mit VERTIGO fortgesetzt und 2014 durch MOIRA abgeschlossen wird.
 
Pressestimmen:
»Julie Pécard und Patrick Entat machen aus „Vertigo“ ein intimes Kunsterlebnis.
Im atemberaubenden Pas-dedeux-Format erleben wir die rauschhafte oder angstbesetzte Vorwegnahme der Gefahr des Fallens.«
MANNHEIMER MORGEN
 
»Julie Pécard und Patrick Entat machen die Bühne zu einem merkwürdig berauschenden Wechselbad der Gefühle ... Musik und Bewegung sind perfekt aufeinander abgestimmt ... Schwindelerregend intensiv und innovativ – das ist „Vertigo“.«
DIE RHEINPFALZ

Das Schwinden des Schwindels
Von unserem Redaktionsmitglied Ralf-Carl Langhals
Da hatte man sich des Dauerregens wegen mal einen Schlapphut aufgesetzt und war unvorsichtigerweise in einer Fasnachtslaune aufgrund der zu vermutenden Kanadierdichte zuvor ins karierte Holzfällerhemd und hernach ins Hinterhoftheater geschlüpft - und dann so was: Wer in das Mannheimer Felina-Theater zum neuen Tanztheaterabend des Kanadiers Éric Trottier will, muss über einen Laufsteg an seinen Platz. Kraftwerks "Model" oder Liedchen wie "On The Catwalk" kommen einem da in den Sinn. Launig ist das vom Veranstalter, der La-Trottier Dance Company Mannheim, angelegt. Als wäre die Pflicht zum eigenen Auftritt nicht schlimm genug, da muss das bereits sitzende Publikum auf Anweisung von Conferencier Patrick Entat auch noch applaudieren, wenn nachfolgende Zuschauer auftreten.
Wie in einer "Fashion-Show"Doch man nimmt es mit Humor - und ist erstaunt, wie professionell katzenhaft sich mancher Premierenbesucher bewegt. Zugegeben, die Tänzer- und Choreographendichte mit Modelmaßen im Publikum ist hoch, und das hat freilich Gründe: Tänzerin Julie Pécard, seit 2009 Ensemblemitglied des Kevin O'Day Ballett Nationaltheater Mannheim, ist mit von der Partie - und auch der für Choreographie und Regie verantwortlich zeichnende Éric Trottier gehörte einst zum "NTB"-Ensemble, bevor er erfolgreich eigene Wege ging.
Die Wege, die hier - dann ohne Publikum - beschritten werden, sind die elegant-kühlen einer "Fashion Show", wie Tänzer und Schauspieler Patrick Entat einräumt. Julie Pécard erntet häufig Applaus, für ihren sexy Gang und freilich auch für die großartigen Kostüme von Melanie Riester. Zur mal schneidenden, mal klirrenden, mal gelungen minimaltonalen Musik Jörg Ritzenhoffs wandeln Pécard und Entat wenige Riester-Basics zur atemberaubenden Garderobe. Alles äußerlich? "Vertigo" heißt der Abend an der Oberfläche. Der als medizinischer Terminus und durch Alfred Hitchcocks gleichnamigen Film bekannte "Schwindel" ist einer der häufigsten Beratungsanlässe in ärztlichen Sprechstunden - und hat zudem ausschließlich im Deutschen die schöne Doppelbedeutung von Lüge. Das Paar schwindelt hier, der elegante Hochglanz geht schnell flöten. Ist die Modenschau-Situation aufgelöst, zuckt Pécard mit zitternden Gliedmaßen in schnell springende, quadratische Lichtspotts: Schwindelig kann einem werden, bei den vielen Aufgaben, den schnellen Ortswechseln mit dem panischen Ziel, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, allen Anforderungen gerecht zu werden. Auf vibrierende Nervosität folgt auf langgestreckter Bühne ein raumgreifendes, bodennahes Solo Entats.
Auch wenn der Ehrentitel Kammertänzer für die beiden Protagonisten noch in der Ferne liegt, als Kammertanz könnte man das intime Kunsterlebnis mit großer Publikumsnähe bezeichnen. Auch diesmal ist man nah dran. Zusammen mit seinen Tänzern hatte sich Éric Trottier schon in seiner vorherigen Produktion "Chaos" mitten im Publikum auf Spurensuche jenseits von Ordnung und Kontrolle begeben. Dem ersten Teil seiner Trilogie "no control", mit der er für den im April zu vergebenden Stuttgarter Theaterpreis nominiert ist, folgt in "Vertigo" nun der Verlust der Balance.
Im atemberaubenden Pas-de-deux-Format erleben wir die rauschhafte oder angstbesetzte Vorwegnahme der Gefahr des Fallens und eine exzellent choreographierte Auflösung eines Begriffs: "Falling in love". Briten und Amerikaner fallen buchstäblich in die Liebe. Julie Pécard und Patrick Entat erleben sie als überwältigenden Sog, wobei das Schwanken und Drehen nur einen Bezugspunkt haben kann: das Auge des geliebten, gegenüberliegenden Betrachters.
Ein berührendes Duett, das performativ von Zweifeln zerfressen wird. Theater im Theater - mit Humor: Er beschwert sich, dass sie ihm nicht mehr in die Augen blicke, ein egoistisches Solo fahre, wo ein Pas de deux vorgesehen sei. Es folgt die Krise, die Bezugsgrößen schwinden, Eigeninteressen verleiten zum Schwindeln. Der Liebe folgt Zank, das Ende bleibt offen. Stürzt er an der Bühnenrampe in die Tiefe? Gerade am Abgrund kann einem schwindelig werden. Erst herzlicher, lang-anhaltender Applaus holt die beiden Tänzer wieder auf den festen Boden der Bühnenbretter.
© Mannheimer Morgen, Montag, 04.02.2013