Thomas Linden, Kölnische Rundschau, Oktober 2013
Erotik und kühle Distanz
Hervorragende Tanzproduktion von Barbara Fuchs aufgeführt
Wenn sich Darsteller auf der Bühne entkleiden, dann erzeugt die Nacktheit eine Atmosphäre der Beklemmung im Saal. Ziehen Sie sich wieder an und wiederholen diesen Vorgang ein ums
andere Mal, dann verliert sich die Intimität, und ihre Aktion wird zu einer Choreographie. N der neuen Produktion „+-„ von Barbara Fuchs im Tanzraum von Barnes Crossing entkleiden
sich Odile Foehl, Regina Rossi, Ursula Nill und Pietro Micci auf diese Weise.
Die Spannung zwischen privatem und öffentlichen Moment senkt sich kontinuierlich. Der Sound von Jörg Ritzenhoff lädt die Szene hingegen akustisch auf. Das Spiel der Ladung zwischen
den emotionalen Polen von plus und minus betreibt Barbara Fuchs mit erstaunlicher Virtuosität in dieser zweiten Choreographie ihres insgesamt dreiteiligen Zyklus „Ge-fühl-los“.
Ursula Nill präsentiert sie mit hochgerutschtem Röckchen wie eine aufreizende junge Muse von Balthus. Die knisternde Erotik kontert sie dann mit einem Lachen, wenn zum Gruppenbild
alle Beteiligten die Zunge aus dem Mund stecken. Affekte werden aufgebaut und zugleich in Distanz gerückt.
Das geht soweit, das sich die Vier treten und schlagen, auch ins Gesicht, und doch brennen niemandem die Sicherungen durch, das Spiel bleibt jederzeit eine kalkulierte
Zurschaustellung der Emotionen.
Das Bühnenbild mit schwarzweißen Kreisformationen erinnert an eine abstrakte Darstellung des Gehirns, und seziert wird hier durchaus, allerdings nicht mit dem Skalpell, sondern mit
sprachlichen Wendungen, die sich tief in das Forschungsgebiet der Neurologen hineinbohren. So aufmerksam, wie Barbara Fuchs jeden Anflug von Sentimentalität vermeidet, so wenig geht
sie in die Falle eines kalten Formalismus.
Die Körper verschlingen sich ineinander, die Attraktivität der Tänzerinnen wird bewusst ausgespielt, und doch betont die Kölner Choreographin stets die Blickdistanz. Barbara Fuchs
findet treffende Bilder für das Intime und sie dosiert ihre Choreographie streng auf die Funktion ihres Sujets. Hier wird nichts verschenkt, und zugleich entsteht eine kompakte,
erlebnissatte Produktion.
Vielleicht die beste Arbeit, die diese erfahrene Choreographin bisher gelungen ist.
Klaus Keil, aKT – Die Theaterzeitung Köln – November 2013
Self-exposure
aKT-Inszenierung des Monats: Einen ungewöhnlichen Umgang mit Gefühlen und Stimmungen eröffnet die Choreografi n Barbara Fuchs in ihrem Stück "PlusMinus" - und stellt damit das
Empathie-Vermögen des Publikums auf die Probe.
Der begeisterte Schlussapplaus zeigte, dass die "Botschaft" angekommen ist. Es ist nur ein kleiner Bereich in unserem Gehirn. Doch er ist zuständig für die großen Gefühle: die
Amygdala, der sogenannte Mandelkern. In "PlusMinus", dem zweiten Teil des dreiteiligen Tanz-Zyklus "GE-FÜHL-LOS", fordert die Choreografi n Barbara Fuchs das Zentrum der Emotionen und
Triebe ebenso nachdrücklich wie konsequent heraus. Diesmal stehen Gefühle wie Scham, Schuld, Demut, Eitelkeit, Neid und Wollust im Mittelpunkt der Inszenierung. Eine choreografische
Mammut-Aufgabe, die von Barbara Fuchs und ihrem Team inhaltsstark und künstlerisch beeindruckend gelöst wird. Hier werden keine Gefühle nachgespielt oder theatralisch vertanzt, wie in
den "Affectos Humanos" der Dore Hoyer von 1962. An "PlusMinus" von 2013 wirken alle Theaterdisziplinen mit eigenständigen Aspekten und Gefühlsmomenten mit. Das wird am ehesten an Jörg
Ritzenhoffs elektronischer Musik spürbar, die den Boden für die wechselnden Stimmungen der Inszenierung bereitet. Dann wieder werden die Begegnungen der Akteure aus dem Off
psychologisch kommentiert oder mit emotionalisierenden Satzfragmenten gepusht (der Rest... verblasst...). Erst durch das Zusammenspiel von Musik, Text und Sprache, Bühne und Licht und
natürlich Choreografi e und Tanz, fügt sich aus zahllosen Facetten das Erleben des Gefühles selbst. Eine eher ungewöhnliche Inszenierungsweise - aber mit phänomenaler Wirkung. Sie
erinnert an Stanislawski und Strasberg und deren Methode vom "Als ob" des eigenen Erlebens in der Rolle.
ZWEI SEITEN DER LIEBE
In nahtlos ineinander übergehende Szenen dringt die Inszenierung unaufhaltsam von den sichtbaren Gefühlsfacetten zum Gefühl selbst vor. Die Bühne ist aufgeteilt in zwei Hälften.
Darauf ausgefranste Kreise in schwarz/weiß/schwarz, die nicht von ungefähr an Ying und Yang denken lassen, so als wolle man schon damit auf die Ambivalenz von Gefühlen verweisen. Und
tatsächlich werden in packenden Tanzszenen diese Gefühle und Gemütsbewegungen gedreht und gewendet, werden Anziehung und Abstoßung als zwei Seiten eines Gefühls gezeigt. Anfangs
versammeln sich die drei Tänzerinnen Odile Foehl, Ursula Nill und Regina Rossi und der Performer Pietro Micci auf einer Bank zum emotionslosen Stillleben, blicken leer in den Raum.
Diese Bank ist Ruhe- und Ausgangspunkt für die vier Akteure. Wenn ihnen die Zungen wie unausgesprochene Gefühle aus dem Mund quellen, sie damit grimassieren, kommt Bewegung in die
Szenerie. Zu einem Sound wie vibrierender Flügelschlag lassen die Tänzerinnen Ursula Nill und Regina Rossi die Hüllen fallen. Gleichmütig überschreiten sie die Grenze der Intimität,
stehen nackt und bloß im Licht, kleiden sich wieder an, um sich gleich wieder und wieder stereotyp zu entblößen. In solchen Szenen wird das Anliegen der Inszenierung spürbar: Sich
seiner Gefühle zu entäußern, ist immer auch ein Akt der Selbst-Entblößung. Wenn harte Streicherklänge in den elektronisch-sphärischen Sound einfallen, steigert sich die Begegnung der
beiden Tänzerinnen zum Kampf. Ihre Umarmungen führen zu Verknotungen der Gliedmaßen, die verdreht, geknickt und verwickelt werden. Zarte, harmonische Nacktheit aus Nähe zelebrieren
derweil Odile Foehl und Pietro Micci im Background der Bühne. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Facetten wird von der Choreografin als konsequentes Stilmittel eingesetzt. Und auch
die verwirrenden Verknotungen der Glieder ziehen sich in wechselnden Konstellationen wie unaufl ösliche Widersprüche durch das Stück.
WUNDERKISTE DER GEFÜHLE
Barbara Fuchs greift mit ihrer anspruchsvollen Choreografie in die Wunderkiste der Gefühle und fordert damit auch das Empathie-Vermögen des Publikums heraus (das mit starkem Applaus
dankt). In jedem Moment aber lebt das Stück von der Ausdrucks- und Bewegungsauthentizität der Performer. Vielfältig zeigt sich Pietro Micci im Schlagabtausch mit Ursula Nill, liebend
mit Odile Foehl oder hyperventilierend bis zum Schrei. Und überzeugend authentisch Ursula Nill in ihrem Solo, das mit überaktiver Gestik und Körpereinsatz wie ein getanztes
Schuldeingeständnis am Boden endet.